„Es wäre doch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Anstalt, die Angehörigen des Patienten zu verständigen …“ – Familien von „Euthanasie“-Opfern und ihr Schriftwechsel mit der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee

ISBN 978 3 9821217 4 1von Dietmar Schulze

Für das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags herausgegeben von Stefan Raueiser und Andreas Burmester (Bildungswerk Irsee, Impulse Band 18). Grizeto Verlag, Irsee, 2021, 226 Seiten, broschiert, 17,80 €, ISBN 978-3-9821217-4-1

 

Im Jahre 1849 war im säkularisierten Kloster Irsee die erste Schwäbische „Kreis-Irren-Anstalt“ eröffnet worden. Sie hatte nach dem 1876 erfolgten Neubau der „Heilanstalt für Geisteskranke“ in Kaufbeuren bis 1972 als Abteilung für chronisch kranke Menschen der „Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee“ Bestand. In der NS-Zeit (1933-1945) wurde die Einrichtung ab 1940/41 bis weit in den Sommer 1945 zur Tötungsanstalt. Die den Ärzten und dem Pflegepersonal anvertrauten „Pfleglinge“ wurden dabei in den sicheren Tod nach Grafeneck (bei Gomadingen im heutigen baden-württembergischen Landkreis Reutlingen) oder Hartheim (bei Linz in Oberösterreich) geschickt oder, nach der Einstellung der „Aktion T4“ im August 1941, in Irsee selbst zu Tode gehungert oder mit Luminal (einem Schlafmittel) von ihren Leiden „erlöst“.

In den letzten Jahren wurden im Auftrag des Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags mit Sitz im Tagungs-, Bildungs- und Kulturzentrum Kloster Irsee, das seit 1981 als zentrales Fort- und Weiterbildungsinstitut Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltungen, der Krankenhäuser und der ambulanten Dienste aller bayerischen Bezirke vielfältige Seminare, Workshops und Kurse der beruflichen Bildung anbietet, zahlreiche Aspekte der höchst ambivalenten Psychiatrie-Geschichte der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Irsee (1849-1972), nicht zuletzt auch zu den hier verübten Psychiatrie-Verbrechen im Nationalsozialismus, die 1.218 Menschen ihr Leben kosteten, detailliert aufgearbeitet und veröffentlicht.¹ Jüngst legte das Bildungswerk in seiner Schriftenreihe „Impulse“ nun den vorliegenden Band vor, in dessen Mittelpunkt die Angehörigen-Reaktionen auf die „Euthanasie“-Aktionen in der ehemaligen Anstalt Irsee stehen.

Verfasst wurde die für das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags von Dr. theol. Stefan Raueiser (Jahrgang 1964), Leiter des Bildungswerks des Bayerischen Bezirketags und des Schwäbischen Bildungszentrums Kloster Irsee, und Prof. Dr. Andreas Burmester (Jahrgang 1951), Landeskonservator a.D., herausgegebene Untersuchung von dem Leipziger (mittlerweile Schortens) Historiker Dr. phil. Dietmar Schulze (Jahrgang 1966), der bereits eine Vielzahl einschlägiger Schriften veröffentlichte, darunter „‚Euthanasie‘ in Bernburg. Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg, anhaltische Nervenklinik in der Zeit des Nationalsozialismus“ (Essen 1999), „‚Euthanasie‘ in Großschweidnitz. Regionalisierter Krankenmord in Sachsen 1940-1945“ (Köln 2016), „Gedenkbuch der ehemaligen III. Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch zur Erinnerung an die Opfer von ‚Euthanasie‘ und NS-Psychiatrie“ (Berlin 2017), „Die besetzte Anstalt. Die Psychiatrie in Kocborowo / Konradstein (Polen / Westpreußen) und ihre Opfer im Zweiten Weltkrieg“ (Köln 2019) und „Auch der ‚Gnadentod’ ist Mord“ Der Augsburger Strafprozess über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee“ (Irsee 2019).²

Zu dem Buch, das einen wissenschaftlich fundierten Einblick in zeitgenössische Angehörigen- und Behördenkorrespondenz mit der Anstalts-Direktion Kaufbeuren-Irsee in den 1940er bis 1950er Jahren gibt, hat Franz Löffler (Jahrgang 1961), seit 2018 Präsident des Bayerischen Bezirketags, ein Geleitwort (S. 5-6) beigesteuert, in dem er auf die Bedeutung der Veröffentlichung wie folgt aufmerksam macht. Das Bildungswerk Irsee präsentiert hier „eine Detailstudie zu einem oft übersehenen Aspekt der Behandlung psychiatrischer Patientinnen und Patienten, nämlich zur Korrespondenz von Angehörigen über den Gesundheitszustand wie auch über die finanziellen Folgen von Behandlung und Anstaltsaufenthalt“ (S. 6). Die Fokussierung auf die 1939er- und1940er-Jahre lenke den Blick dabei bewusst auf die Opfer der NS-Patientenmorde und auf die Auswirkungen familiärer Stigmatisierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung.

In seinem Editorial (S. 7-11) weist Stefan Raueiser darauf hin, dass wir über das Geschehen, das sich in der Zeit des „Dritten Reichs“ in den zwischen 1849 und 1972 als psychiatrische Anstalt genutzten Räumlichkeiten der ehemaligen Benediktinerabtei Irsee im Zuge der NS-Erbgesundheitspolitik und ihren „Euthanasie“-Verbrechen ereignete, mittlerweile gut informiert sind. Demgegenüber habe die Perspektive von Familienmitgliedern der Opfer, bislang viel zu wenig Beachtung gefunden, obwohl gerade die Psychiatrie um die Wichtigkeit des „Trialogs“ wisse. Vor diesem Hintergrund beziehungsweise dem Bemühen des Schwäbischen Bildungszentrums, die Geschichte von Kloster Irsee und seiner Bewohnerinnen und Bewohner möglichst umfassend aufzuarbeiten, sei die vorliegende Detailstudie zum Schriftwechsel von Familien Irseer „Euthanasie“-Opfer mit der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee entstanden.

Zur Bedeutung und Intention der Veröffentlichung schreibt Dietmar Schulze in der Einleitung (S. 13-23): „Es ist eine Dokumentation und Analyse des Verhaltens der Angehörigen von ‚Euthanasie’-Opfern.“ Zugleich betont er, dass sich aufgrund der Spezifik des Quellenmaterials generalisierende Aussagen verbieten. Jeder Brief und jedes Antwortschreiben, jede Aktion und jede Reaktion (auch jede ausgebliebene Reaktion) sei einmalig. Zwar ließen sich Verhaltensmuster erkennen, nichtsdestotrotz blieben es immer Einzelfälle: „Das Gesamtprodukt ist demzufolge ein facettenreiches, nicht immer stimmiges, gelegentlich sogar erratisch erscheinendes Bild“ (S. 21).

Die Darstellung, die auch Faksimiles zahlreicher zeitgenössischer Dokumente wiedergibt, folgt einer sachlich-chronologischen Gliederung. Nach einer ausführlichen quantitativen und qualitativen Quellenbeschreibung Der Brief als Quelle (S. 27-38) gliedert sich der Hauptteil der Untersuchung Briefe von und an Angehörige verstorbener Anstaltsbewohner 1940-1950 (S. 41-112) in vier Abschnitte. Während es im ersten um den Briefwechsel geht, den Angehörige in Grafeneck oder Hartheim ermordeter Patienten mit der Krankenhausdirektion Kaufbeuren-Irsee führten (S. 41-66), wird im zweiten, formal identisch aufgebauten Teil, die Korrespondenz aus der dezentralen Phase des Krankenmords vorgestellt (S. 67-100). Zum Vergleich und als Korrektiv folgt im dritten Abschnitt ein kurzer Blick auf die Angehörigenkorrespondenz in den ersten Nachkriegsjahren (1946 bis 1950) verstorbener Anstaltsbewohner (S. 101-112) und – im vierten Abschnitt – ein phasenübergreifender Exkurs zur „Behördenkorrespondenz“ (S. 115-119).

Wie der Autor zeigt, wurden in den Jahren 1940 bis 1941 aus der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren Irsee 692 Patientinnen und Patienten abtransportiert, wobei es die Direktion in allen Fällen unterließ, die Angehörigen zu benachrichtigen. Von entsprechenden Anfragen an die Kaufbeurer Anstaltsverwaltung wurden lediglich Briefe von etwa 100 Familien aktenkundig. Allen Briefeschreibern – egal ob es sich um Frauen und Männer, Kinder und Eltern, NS-Sympathisanten oder rassisch Verfolgte handelte – sei gemeinsam, „dass sie Auskunft über den Gesundheitszustand bzw. den Aufenthaltsort oder Gewissheit über das Schicksal einer bzw. eines Angehörigen verlangten“ (S. 65). Die Durchsicht der Korrespondenz habe deutlich gemacht, dass zustimmende Äußerungen zum Krankenmord bzw. zum „Euthanasie“-Programm fehlen: „Kein Schreiber vertrat die Meinung, dass der Tod eines in Irsee untergebrachten erkranken Angehörigen eine ‚Erlösung’ gewesen sei“ (S. 66). Auch während der Phase der dezentralen „Euthanasie“ 1944 und 1945, in der Irsee sich in eine Tötungsanstalt gewandelt hatte, habe demnach der Dank von Angehörigen „in keinem einzigen Fall dem vollzogenen ‚Gnadentod’, sondern ausnahmslos der vermuteten guten Pflege und Versorgung“ (S. 99) gegolten.

In seiner Schlussbetrachtung (S. 123-124) macht Dietmar Schulze darauf aufmerksam, dass eine Antwort auf die von dem Historiker und Journalisten Götz Aly in seinem Buch „Die Belasteten“ (Frankfurt am Main 2013) aufgeworfene Frage, ob der NS-Krankenmord nicht ein „Angebot an das Volk, speziell an die Verwandten der künftigen Opfer“ gewesen sei, das billigend in Kauf genommen und vielleicht sogar als „Erlösung“ angesehen worden sei, es somit einer Verschleierung und Geheimhaltung der Mordaktion nicht bedurfte, „auch nach Auswertung der Irseer und anderer Quellen zur Angehörigenkorrespondenz nicht endgültig gegeben werden“ kann. Die Nutzung des Begriffs „Erlösung“ in den Briefen einiger Verwandten beschreibe eher deren Versuch, den plötzlichen Tod zu verarbeiten und Trost zu finden. „Erlösung“ im nationalsozialistischen Sinne, dass die Gesellschaft zum Wohle der körperlich und geistig Gesunden von „Ballastexistenzen“ befreit werden müsse, könne – so der Autor – „im Kontext der Irseer Überlieferung nicht herausgelesen werden.“ Ebenso könne die Tatsache, dass kaum Protestschreiben bei der Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee eingingen, „nicht unbedingt als Beleg für eine breite gesellschaftliche Akzeptanz des NS-Krankenmordes herangezogen werden“ (S. 123). 

Breiten Raum nehmen in dem Buch auch Interviews mit heute lebenden Angehörigen ein, die sich auf Spurensuche nach ihren Familienmitgliedern begeben haben. Aufgezeichnet wurden die entsprechenden – hier unter der Überschrift Das Schweigen brechen und die Schatten vertreiben (S. 135-164) wieder gegeben – Erinnerungen durch den Journalisten Robert Domes (Jahrgang 1961), der und unter anderem „Nebel im August. Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa“ (München 2016) und „Waggon vierter Klasse. Eine Spurensuche in der Nachkriegszeit“ (München 2021) veröffentlichte. Nach seiner festen Überzeugung haben das Aufdecken und Erinnern eine „heilsame Wirkung“. Hierzu führt der Autor, der seit beinahe zwanzig Jahren Gespräche mit Angehörigen von Opfern der NS-„Euthanasie“ führt, wörtlich aus: „Wir müssen das Unrecht benennen. Wir müssen die vergessenen Opfer beim Namen nennen, um ihnen die Würde zurückzugeben, die ihnen von den Tätern genommen wurde. Und um ihnen einen würdigen Platz in der allgemeinen Erinnerung zu geben“ (S. 138). Nicht zuletzt sei die öffentliche Aufarbeitung auch ein Weg, um die Familien von Scham, Angst und Schuldgefühlen zu befreien.

In Nachwort Versuch eines Epilogs (S. 167-173) schreibt Andreas Burmester, der seiner dem Hungertod in der Landesheilanstalt Merxhausen (Bad Emstal in Hessen) zum Opfer gefallenen Tante Ursula Murawski jüngst mit „Versandung. Annäherung an eine einzige gesprochene Andeutung“ (Berlin 2020) ein eindrückliches literarisches Denkmal gesetzt hat, über die vorliegende, verdienstvolle Arbeit: „Jeder der von Dietmar Schulze ausgewerteten Angehörigenbriefe oder -berichte erzählt von einem vergangenen Leben. Mal vertrauensvoll bittend, mal unterschwellig drohend, dann fassungslos, auch dankbar oder schlicht von Unverständnis getragen. Allen Absendern gemein war noch die persönliche Bekanntschaft mit den Opfern“ (S. 167). Selbst wenn zu vermuten sei, dass die vorgefundene Korrespondenz wohl nur Bruchteil einer weit umfangreicheren ist, vermittele sie uns zweierlei: Ein Bild vom Leben in einem Regime, das sich schon längst gegen die eigene Bevölkerung gewandt hatte, wie auch ein Bild von den unfassbaren Kontinuitäten der Nachkriegszeit. Ungeachtet aller politischen Umstände spiegelten die Briefe das ungebrochene Vertrauen in die „Götter in Weiß“. Der selten fordernde, oft devote Ton bittstellender Väter, Schwestern, Kinder habe seinen Widerhall in den kühlen Reaktionen des Ärztlichen Direktors oder den widerstrebenden Auskünften seiner Verwaltung gefunden. „Hartnäckige Rückfragen aus dem Familienkreis nach dem Befinden eines Patienten oder einer Patientin blieben unbeantwortet, wurden abgebügelt, in Lügen verpackt. Und selbst nach dem Ende des Krieges führte Vorsicht die Feder“ (S. 168).

Ergänzt wird die Darstellung durch einen ausführlichen Anhang (S. 175-224) mit Tabellen, Statistiken und Karten, der auf der Auswertung der Patientenkartei im Historischen Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren und dem Krankenaktenbestand R 179 im Bundesarchiv basiert, unter anderem mit den Namen von Irseer „Euthanasie“-Opfern mit ausgewählten persönlichen Daten, den Aufnahmen in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 1941-1945, den aus Irsee stammenden Opfer der Gasmordaktion sowie den Irseer Opfer der dezentralen „Euthanasie“, die der Krankenschwester Pauline Kneissler (1900-1989) zugerechnet werden.

Insgesamt betrachtet gewährt das vorliegende Buch sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht tiefe Einblicke in das familiäre Gefüge von Patientinnen und Patienten der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Irsee, wobei die Angehörigen durch ausführliche Zitate immer wieder auch selbst zu Wort kommen. Die Veröffentlichung, der eine große Leserschaft wünscht, ist dabei umso bedeutender, als die Position der Angehörigen zwischen Ärzteschaft, Pflegepersonal und Verwaltung lange unbeachtet blieb.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling


1 Vgl. https://www.kloster-irsee.de/bildung-kultur/publikationen [18.07.2023]. Mehrere der Werke hat der Rezensent ausführlich in „Geschichte der Pflege“ beziehungsweise „Geschichte der Gesundheitsberufe“ vorgestellt. Vgl. https://www.geschichte-der-gesundheitsberufe.info/content/news/rezensionen [18.07.2023]

2 Zu dem zuletzt genannten Werk vgl. die Besprechung des Rezensenten in: Geschichte der Pflege. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe, 9. Jg., Ausgabe 2-2020, S. 155-157; online unter: In: https://www.pflege-wissenschaft.info/rezension_eintrag.php?document_id=12286 [30.09.2020].